Im Nebel der „Grauzone“

taz: Herr Gysi, gibt es in der Linkspartei Antisemitismus?

Gregor Gysi: Nein. Antisemitismus bedeutet, Juden oder Jüdinnen zu benachteiligen oder Schlimmeres zu tun, weil sie Juden oder Jüdinnen sind. Das kenne ich aus unserer Partei nicht. Der Begriff wird derzeit leider inflationär verwandt.1

Am 8. und 9. November 2013 findet im Jüdischen Museum in Berlin eine gemeinsam mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) und dem Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA), das an der TU Berlin angesiedelt ist, veranstaltete internationale Konferenz unter der Überschrift „Antisemitism in Europe Today: the Phenomena, the Conflicts“2 statt.

Für den zweiten Tag der Veranstaltung wird die Teilnahme des deutschen Protest- und Antisemitismusforschers Peter Ullrich an einer Gesprächsrunde „New Antisemitism – Criticism of Israel or Antisemitism?“ angekündigt, einer Diskussion der Frage also, wann „Kritik an Israel“3 umschlägt in Antisemitismus.

Als Autor mit einer recht langen Publikationsliste4 bei der der Partei Die Linke nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) könnte, sollte man meinen, Peter Ullrich ein fachlich und sachlich kompetenter Referent sein, wurde der Partei doch vor allem wegen und nach der Teilnahme zweier ihrer aktiven Bundestagsabgeordneten an der „Free Gaza“-Flotte 2010 immer wieder Antisemitismus vorgeworfen.

Mitte 2011 fragten Samuel Salzborn und Sebastian Voigt, „Antisemiten als Koalitionspartner?“5, und noch im September 2013 erinnerte der (gleichwohl scheinheilige6) SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel daran, daß „vor zwei, drei Jahren“ – es war am 27. Januar 2010 – ein Teil der Linksfraktion sich nach der Rede des israelischen Präsidenten Shimon Peres im Deutschen Bundestag aus Anlaß des Internationalen Holocaust-Gedenktags unwürdig verhalten habe:

„Solange Sie ein ungeklärtes Verhältnis in einem Teil ihrer Fraktion zu dieser Frage haben, wird die deutsche SPD mit Ihnen keine Koalition machen.“7

Wie reagiert nun Peter Ullrich auf solche und ähnliche Vorwürfe? In dem erstmals 2011 publizierten Aufsatz „Ist DIE LINKE antisemitisch? Über Grauzonen der ‚Israelkritik’ und ihre Kritiker“8 räumen er und Mitautor Alban Werner zunächst einmal ein, „DIE LINKE ist ebenso wie andere Organisationen und Parteien Teil der deutschen Gesellschaft, in der unterschiedliche Spielarten von Antisemitismus in verschieden starker Intensität existieren.“9

Doch dieser zweifellos richtigen Erkenntnis folgt sogleich der beschwichtigende Hinweis, „Anhänger/innen von Gewerkschaften und linken Parteien“ seien davon insgesamt „unterdurchschnittlich“ und „bei letzteren weniger als die Anhänger/innen von Parteien der Mitte und rechten Parteien“10 betroffen. Allerdings ließ sich im Mai 2010 kein Mitglied der CDU ins Frauendeck der „Mavi Marmara“ sperren.

An Bord waren vielmehr mit Annette Groth und Inge Höger zwei aktive und mit Norman Paech ein ehemaliger Repräsentant der Partei Die Linke im Bundestag11. Und daran, daß sie mit ihrer Teilnahme an der „Free Gaza“-Flotte sich an einem illegalen Angriff auf Israel beteiligten, ließen selbst die VN keinen Zweifel aufkommen: „The naval blockade was imposed as a legitimate security measure … and its implementation complied with the requirements of international law.“12

Organisiert worden war die „Free Gaza“-Flotte von der türkischen islamistischen NGO IHH, die kein Geheimnis aus ihren Kontakten zur in den USA und Europa als terroristische Organisation geächteten Hamas machte13. Muslimische Teilnehmer wiederum stimmten sich – von ihren deutschen Mitreisenden unbemerkt? – mit einschlägigen Schlachtgesängen auf die beabsichtigte Konfrontation mit den israelischen Seestreitkräften ein14.

Aber auch hier winkt Peter Ullrich ab: Aus der Teilnahme mehrerer hochrangiger linker Politiker an der „Free Gaza“-Flotte dürfe man keine auf die Partei Die Linke bezogenen Schlüsse ziehen. Gemeinsam mit Alban Werner formuliert er als Kritik an Samuel Salzborn und Sebastian Voigt, diese hätten „nicht offen gelegt …, mit welcher Berechtigung – und dies ist der gewichtigste Einwand – von diesem Material auf die Partei als Ganze geschlossen wird“15.

Um allerdings wirklich allen Eventualitäten vorzubeugen, wird noch eine „Grauzone“ kreiert. Die Teilnahme linker Politiker an der „Free Gaza“-Flotte sei nämlich „eher ein Fall in der Grauzone zwischen problematischer Tolerierung antisemitischer Akteure …, als ein Nachweis von Praktiken, die explizit die Zerstörung Israels zum Ziel haben“16. Wer so argumentiert, will kein Problem lösen, und Antisemitismus ist ein Problem, sondern es verharmlosen und damit leugnen.

Für wen nahm Annette Groth drei Jahre nach ihrer Mittelmeerfahrt an der zweiten „Palästina-Solidaritätskonferenz“ im Mai 2013 in Stuttgart teil? Sie jedenfalls stellte sich vor als „menschenrechtspolitische Sprecherin“ ihrer Fraktion, und im Vorspann eines Mitschnitts17 von der Veranstaltung wird sie vorgestellt als: „Annette Groth, DIE LINKE“.

Al Jazeera übertrug in alle Welt, was die Referenten dieser Veranstaltung zu sagen hatten, unter ihnen auch Joseph Massad, der mit seinem Vortrag „The Last of the Semites“18 in Stuttgart „one of the most anti-Jewish screeds in recent memory“ zu Gehör brachte, wie Jeffrey Goldberg (The Atlantic) twitterte19. Fiel Annette Groth das nicht auf?

Innerhalb ihrer Partei schadete ihr weder die Teilnahme an der „Free Gaza“-Flotte noch ihre Nichtreaktion angesichts einer antisemitischen Hetzrede im Rahmen der Stuttgarter „Palästina-Solidaritätskonferenz“. Bereits im November 2012 zur Direktkandidatin für die Bundestagswahl 2013 nominiert20, konnte Annette Groth als Listenkandidatin ihr Bundestagsmandat verteidigen. Und auch Inge Höger gehört der neuen Linksfraktion an.

grauzone

In seinem Anfang Oktober erschienenen Band „Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt“21 präsentiert Peter Ullrich bereits eine Art Antwort auf die ungebrochenen Karrieren Annette Groths und Inge Högers innerhalb der Partei Die Linke: Aus der „Grauzone“ des Jahres 2011 ist eine „breite Grauzone“22 geworden oder sogar eine „sehr breite Grauzone“23. Wo ein Antisemitismusforscher klar urteilen können sollte, vernebelt Peter Ullrich.

Daß er und sein Buch vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA)24 beworben werden, ist so skandalös wie die Annahme, er könne einen sinnvollen Beitrag zu der Frage leisten, wann Kritik Kritik und wann Antisemitismus Antisemitismus ist. Nichts liegt ihm ferner als sich festzulegen; bei ihm verschwindet, was als Antisemitismus geächtet werden sollte, in einer wachsenden „Grauzone“. Doch gerade auf Klarheit sollte es auf einer Konferenz über Antisemitismus in Europa ankommen.

(Leicht editiert auch im Blog des Berlin International Center for the Study of Antisemitism – BICSA – veröffentlicht.)

1 „Wir müssen der Kritik Grenzen setzen“, Interview mit Gregor Gysi, taz vom 17. Juni 2011, S. 3; http://taz.de/!72580/, 11. Oktober 2013.
2 http://www.tu-berlin.de/fileadmin/i65/Veranstaltungen/2013/11/ConferenceProgram_Antisemitism_in_Europe.pdf, 11. Oktober 2013.
3 Den Organisatoren der Veranstaltung kam offenbar nicht in den Sinn, daß die Formulierung „Kritik an Israel“ im Vergleich beispielsweise mit „Kritik an der Politik Israels“ die ungeeignetere sein könnte.
4 http://www.rosalux.de/publikationen/autorenprofil/profil_detail/peter-ullrich.html, 11. Oktober 2013.
5 Samuel Salzborn und Sebastian Voigt: „Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit“, in Zeitschrift für Politik 3/2011, S. 290.
6 vgl.: Stefanie Galla: Eine Replik auf Sigmar Gabriel, http://www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/apartheid-regime-in-hebron-eine-replik-auf-sigmar-gabriel/6332268.html, 11. Oktober 2013.
7 „Günther Jauch“, Das Erste, 15. September 2013.
8 Peter Ullrich und Alban Werner: Ist „DIE LINKE“ antisemitisch? Über Grauzonen der „Israelkritik“ und ihre Kritiker, in: Zeitschrift für Politik 4/2011.
9 ebd. S. 424.
10 ebd. S. 425.
11 vgl.: http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/145159/index.html, 11. Oktober 2013.
12 Report of the Secretary-General’s Panel of Inquiry on the 31 May 2010 Flotilla Incident, S. 4; http://www.un.org/News/dh/infocus/middle_east/Gaza_Flotilla_Panel_Report.pdf, 11. Oktober 2013.
13 vgl.: http://www.terrorism-info.org.il/en/article/18108, 11. Oktober 2013.
14 vgl.: http://www.palwatch.org/main.aspx?fi=157&doc_id=2323, 11. Oktober 2013.
15 Peter Ullrich und Alban Werner: Ist „DIE LINKE“ antisemitisch? Über Grauzonen der „Israelkritik“ und ihre Kritiker, in: Zeitschrift für Politik 4/2011, S. 426.
16 ebd. S. 431.
17 http://www.youtube.com/watch?v=ag3Bjo08VR8, 11. Oktober 2013.
18 http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2013/05/2013521184814703958.html, 11. Oktober 2013.
19 https://twitter.com/JeffreyGoldberg/status/334301840860663808, 11. Oktober 2013.
20 http://www.schwaebische.de/region/bodensee/friedrichshafen/stadtnachrichten-friedrichshafen_artikel,-Annette-Groth-ist-die-Direktkandidatin-_arid,5342839.html, 11. Oktober 2013.
21 Peter Ullrich: Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiksurs, Göttingen 2013; http://www.wallstein-verlag.de/9783835313620-peter-ullrich-deutsche-linke-und-der-nahostkonflikt.html, 11. Oktober 2013.
22 ebd. S. 188.
23 ebd. S. 169.
24 http://www.tu-berlin.de/fakultaet_i/zentrum_fuer_antisemitismusforschung/, 11. Oktober 2013.

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