Mit seinem folgenreichen Urteil vom 7. Mai 2012 wies das Landgericht Köln einen Einspruch der Staatsanwaltschaft gegen einen am 21. September 2011 ergangenen Freispruch eines Allgemeinmediziners zurück, der am Amtsgericht Köln der gefährlichen Körperverletzung angeklagt worden war, weil er die Beschneidung eines vierjährigen Jungen vorgenommen hatte.
Zwei Tage nach der Beschneidung war es zu Komplikationen gekommen, von denen die Kölner Staatsanwaltschaft erfahren und darauf Anklage erhoben hatte. In seinem Urteil betonte der Amtsrichter, daß der Angeklagte freizusprechen sei, da der Eingriff wegen einer wirksamen Einwilligung der Eltern des Jungen gerechtfertigt gewesen sei:
„Die Entscheidung habe sich an dem Wohl des Kindes ausgerichtet, da die Zirkumzision als traditionelle Handlungsweise der Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit diene, womit auch einer Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt werde. Ferner dürfe nicht verkannt werden, dass die Zirkumzision auch im amerikanischen und angelsächsischen Raum aus hygienischen Gründen einen wichtigen Stellenwert einnehme.“1
Mit seiner Entscheidung bestätigte das Landgericht Köln zwar den Freispruch der Mediziners, sah aber durch die Beschneidung des Jungen ohne medizinische Notwendigkeit den „Tatbestand der einfachen Körperverletzung“2 als erfüllt an; der Angeklagte habe „sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunde(n)“3 und sei deshalb freigesprochen worden.
Die Beschneidung selbst bewertete das Landgericht in Köln entschieden anders als die Vorinstanz im September 2011:
„Dieser Eingriff sei insbesondere nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie nicht dem Wohl des Kindes entspreche. Denn im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorliegend die Grundrechte der Eltern. Ihre Religionsfreiheit und ihr Erziehungsrecht würden nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich das Kind später selbst für eine Beschneidung entscheidet.“4
Eine Berufung gegen diese Einschätzung ist nicht mehr möglich, da der ursprünglich Angeklagte freigesprochen wurde.
Mit dem Bekanntwerden dieses Urteils begann eine bis heute nicht beendete „Beschneidungsdebatte“, deren Heftigkeit vermuten läßt, daß es den wenigsten Protagonisten, die sich gegen die Beschneidung von Jungen aus religiösen Motiven aussprechen, tatsächlich um eine ernsthafte Debatte über das Wohl von Kindern geht.
So erfuhren jüdische und muslimische Eltern von André Schulz, dem Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), daß sie, lassen sie an ihren Söhnen die Beschneidung vornehmen, sich nicht etwa „nur“ einer „einfachen Körperverletzung“ schuldig machten, wie noch das Landgericht in Köln gemeint hatte. Für den BDK-Chef mußte es etwas mehr sein.
„Eine religiös begründete Beschneidung ist laut Strafgesetzbuch eine schwere Körperverletzung.“5
Aus Kreisen, die für sich beanspruchen, gegen Antisemitismus einzutreten und Israel solidarisch verbunden zu sein, wurde vor allem Juden mitgeteilt, daß sie sich zu ändern haben. Kommentierte für Politically Incorrect Michael Stürzenberger, „so etwas hat nach meiner festen Überzeugung in unserem Land nichts zu suchen“6, bat die Redaktion Bahamas zum Prozeß unter dem Motto:
„Die Beschneidung wird nicht als archaisch ‚hingestellt‘, sie ist es.“7
Im politischen Mainstream verbat derweil Marlene Rupprecht, MdB und Kinderbeauftragte für die SPD, sich jüdische Kritik am Urteil des Landgerichts in Köln:
„Auf die Feststellung des Zentralratspräsidenten der Juden, Dieter Graumann, ohne Rechtssicherheit für Beschneidungen sei jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich, sagte Rupprecht, dies sei ein ‚Totschlagargument‘. Man könne nicht sagen: ‚Wir hatten den Holocaust, also haben wir jahrhundertelang nichts zu kritisieren.‘“8
Und zuletzt entblödete sich der Ethikrat Reinhard Merkel, von dem sich die deutsche Regierung und der Bundestag beraten lassen, nicht, mit „ungewohnt deutlichen Worten“9 gegen die Beschneidung zu Felde zu ziehen. „Wir werden gravierende Komplikation (sic!) bis hin zu Todesfällen erleben“10, erklärte er im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Die Argumente all der bisher Genannten sowie weiterer Ungenannter11 haben mit der Realität wenig zu tun. Während sie für sich beanspruchen, das Kindeswohl zu verteidigen, spricht aus ihnen tatsächlich nichts als Ressentiment, was sich besonders deutlich in einem Vergleich zwischen Israel und Deutschland bzw. der Europäischen Union zeigt.
Zum Nationalfeiertag erfreute das Statistische Bundesamt in Wiesbaden die Deutschen, von denen mal 45 Prozent12, mal 56 Prozent13 das „archaische Ritual“ verbannen und verbieten möchten, mit der Nachricht, daß ihre Lebenserwartung „auf Rekordwerte gestiegen“14 sei: „Neugeborene Jungen werden durchschnittlich 77 Jahre und 9 Monate alt“15.
In der jüdischen Demokratie, wo es schwierig sein dürfte, unbeschnittene Jungen oder Männer zu finden, ist die Lebenserwartung neugeborener Jungen mit 78,88 Jahren16 etwas mehr als zwölf Monate höher als in Deutschland. Überleben im europäischen Durchschnitt beinahe 4,96 Jungen ihr erstes Lebensjahr nicht, sind es in Israel trotz der Beschneidung durchschnittlich nur 4,2517.
Glaubt man ihren deutschen Gegnern, so ist die Beschneidung von Jungen ein blutiges Ritual, das von „gravierende(n) Komplikation(en) bis hin zu Todesfällen“ begleitet wird. Tatsächlich wächst die israelische Bevölkerung jährlich um 1,54 Prozent, während die Deutschlands um 0,2 Prozent18 abnimmt. Könnte die Zirkumzision daran vielleicht etwas ändern?
8 http://www.welt.de/newsticker/news3/article108804777/Zweifel-an-schneller-gesetzlicher-Loesung-fuer-Beschneidungen.html
9 http://www.welt.de/politik/deutschland/article109564185/Strafrechtler-warnt-vor-Todesfaellen-bei-Beschneidung.html
11 Zur Kritik vgl.: http://clemensheni.net/2012/10/01/von-weimar-nach-berlin-antisemitismus-vor-auschwitz-und-im-jahr-2012/
12 http://nachrichten.t-online.de/umfrage-fast-die-haelfte-der-deutschen-fuer-beschneidungsverbot/id_58048952/index
13 http://www.ftd.de/politik/deutschland/:umfrage-deutsche-lehnen-religioese-beschneidung-ab/70057463.html